Nur fließen. Nur treiben.

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      Nur fließen. Nur treiben.

      Meine neue - zugegeben, etwas abstrakte - Kurzgeschichte.
      Wenn ihr wollt, kämpft euch durch und zieht daraus, was euch am besten passt.
      Falls ihr dann noch Lust habt, eure Anregungen, Ideen und Eindrücke mit mir zu teilen, würde ich mich sehr freuen ;)

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      Nur fließen. Nur treiben.

      Er lief auf dieser Straße entlang, ohne zu wissen, wohin er wollte. Über ihm spaltete sich der Himmel und der Boden wurde immer bröckeliger. Er hatte das Gefühl, als ob sich bald eine Schlucht unter ihm auftun würde. Von weitem hörte er, wie sie seinen Namen rief. Wer sie war, das wusste er nicht – nur, dass er ihre Stimme schon einmal gehört hatte.
      Aus ferner Kindheit.
      In einer anderen Zeit.
      Aber ihre Stimme wurde von den dröhnenden Motoren der Maschinen überdeckt. Überall diese ohrenbetäubenden Geräusche. Auf und ab und auf und ab. Die Bolzen stießen in das Metall und schufen einen Durchgang. Der Druck, der auf ihm lastete, zwang ihn zu Boden. Er wusste, dass er bald, wenn er so weiter machte, in diesen tiefen Spalt fallen würde. Wann würde er sich auftun? Konnte er überhaupt vor ihm entkommen? Würde sie da sein, um seine Hand zu halten? Wer war sie überhaupt? Und wer war er?
      Tapp,
      tapp.
      Seine Schritte hallten auf dem langen Flur wider. Wenn er daran dachte, was aus ihnen geworden war, zog sich seine Brust vor Schmerz zusammen. Der Schmerz war so riesig, dass er es nicht aushielt. Sein Kopf hämmerte wie verrückt. Wer war dort drin und schlug permanent gegen die Wände dieses Raums ohne Möbel, ohne Inhalt, der nur gefüllt war mit erstickendem Dunst und Nebel? Wer war diese Person, die am liebsten die Wände seiner Erinnerung durchbrechen wollte? Was genau hatte sie mit ihm vor? Er fiel auf die Knie und starrte in seine zittrigen Hände. Sie waren vom Schweiß ganz durchnässt. Warum schwitzte er? Er hatte sich kaum angestrengt. Noch nie. Vielleicht war das sein Fehler gewesen.
      Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder lebte er mit der Vergangenheit oder er starb mit ihr. Was genau es wohl war, das ihn am anderen Ende dieses Ganges erwartete? Würde sie ihm die Antwort auf seine Fragen geben können? Da waren zwei Lichter am Horizont. Eines glühte im Rot der Abendsonne. Ein anderes leuchtete wie die Sonne an einem Morgen, an dem das Gras noch feucht vom Tau der letzten Nacht war. Der glühend rote Himmel malte ein Lied des Schreckens an seine weiße Tapete, aber im taufrischen Gras des milden Sommermorgens lag ein toter Körper, der ihn mit leerem Blick anstarrte.
      In einem Traum sah er durch ein Fenster und starrte in zwei blutunterlaufene Augen, die ihn von jenseits der Scheibe anstarrten. Er wusste nicht, wem diese Augen gehörten, aber sie hinterließen ein Gefühl des Grauens in ihm. Als wüssten sie etwas, das er nicht wissen wollte. Und sie starrten ihn permanent durch dieses Fenster an, weil sie ihn darauf aufmerksam machen wollten.
      Dieses Rot in den Augen.
      Diese Ringe der Müdigkeit.
      Ein Hauch von Verrat lag in der Luft.
      Er stemmte sich auf und lief und lief und lief. Er hatte Angst, dass er sterben würde, wenn er weiter hier sitzen blieb. Hieß das etwa, dass er den Tod ablehnte? Er rannte, rannte. Irgendwo dort hinten war sie und wartete. Wartete, dass er sie einholte.
      Zwei Wege.
      Zwei Sonnen.
      Zwei Möglichkeiten.
      Leben oder sterben.
      Wähle.
      Der Wind blies ihm ins Gesicht und brannte in seinen trockenen Augen. Er kam dem Nullpunkt immer näher. Er spürte die Hitze des Zentrums. Sein Körper schmolz dahin. Und als er nur noch eine flüssige Masse war, bemerkte er, dass es die Sonne war, die ihn geschmolzen hatte. Er lag auf dieser Wiese und starrte zum Himmel. Er spaltete sich gerade vor seinem Angesicht, weil die Sonne im Inbegriff war zu verglühen. Unter ihm spaltete sich der Boden. Er fiel in ein tiefes Loch. Und sie fiel mit ihm. Irgendwo, sehr weit weg von ihm, fiel sie mit ihm in die Tiefe. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, aber er war sowohl unfähig ihre Hand zu ergreifen als auch ihr Gesicht zu erkennen. Er reckte, reckte sich nach ihr, aber es war umsonst. Es ging immer tiefer und tiefer und tiefer und dabei wurde es immer kälter und kälter.
      Doch er schlug nicht auf. Stattdessen blieb er mitten in der Luft stehen und um ihn herum war gähnende Schwärze. Er wusste nicht einmal, ob er immer noch fiel oder ob er bereits auf dem Boden lag. Existierte an diesem Ort überhaupt so etwas wie Materie? Er streckte seine Hand aus und tatsächlich konnte er etwas berühren. Es war eine Hand, die jenseits dieses schwarzen Nebels zu ihm ausgestreckt war. Euphorisch darüber, endlich etwas gefunden zu haben, das ihm gehörte, riss er die Hand zu sich und da war sie. Er zog sie direkt auf sich zu, ihr Gesicht kreidebleich, ihre Augen blutunterlaufen und ihn wie in Leichenstarre fixierend. Er schrie und stieß sie von sich. Er schrie und wand sich in seinem Bett hin und her.
      Er schrie.
      Er schrie.
      Am Himmel waren keine Sterne mehr.
      Der Wind hatte aufgehört zu wehen.
      Alles fühlte sich steril an.
      Da waren zwei Wege am Ende dieser Straße. Den einen hatte er ausgeschlossen. Auf dem anderen hatte er versagt. Er sah auf seine Uhr. Es war fünf vor zwölf. Dann sah er zum Horizont und hörte jemanden seinen Namen rufen. Es war eine Frauenstimme. Er sah hinter sich. Da war nichts. Da sah er wieder nach vorne. Zwei blutunterlaufene Augen, die ihn anstarrten. Er begann zu zittern. Zwei Wege. Zwei Sonnen. Zwei Möglichkeiten. Sie rief seinen Namen von hinter dem Horizont. Er hatte keine Träne, die er vergießen konnte. Es war alles in seinem Kopf. Dieser leere Raum war die einzige Antwort, die ihm geblieben war. Dann drehte er sich um und ging zurück in die Dunkelheit.

      © Julian Jungermann, 23.07.13
      Ich mag das Abstrakte sehr. Es erinnert mich an einen wirren Traum und ich konnte es mir die ganze Zeit recht bildlich vorstellen. Es wäre wohl ein Traum der Kategorie "aufwachen und erstmal verstört eine halbe Stunde wach liegen". :D


      Eins allerdings stößt mir beim Text irgendwie negativ ins Auge:
      Er sah auf seine Uhr. Es war fünf vor zwölf. Dann sah er zum Horizont und hörte jemanden seinen Namen rufen. Es war eine Frauenstimme. Er sah hinter sich. Da war nichts. Da sah er wieder nach vorne.


      Es kann natürlich gut sein dass die Kürze der Sätze den Stress und die Anspannung symbolisieren sollen (weiß ja nicht ob die so geplant waren, aber ich würde wohl kurze Sätze nehmen um Stress zu unterstreichen^^), aber irgendwie kommt es mir zu abgehackt, fast schon zusammenhangslos vor, obwohl die Sätze ja zusammen hängen. Ich weiß auch nicht was mich daran stört^^
      @Doug
      Danke, freut mich, dass es dir gefallen hat! :)

      @Sanity
      Ja, der Kurzsatzstil (oder Parataxe) ist beabsichtigt, um zum einen den Momentcharakter mancher Szenen und dann natürlich auch die Aufgewühltheit (sagt man das so? o.O) der Figur selbst darzustellen. Das zieht sich ja durch den gesamten Text, nicht nur an der von dir zitierten Stelle. An manchen Schlüsselstellen hab ich Absätze nach nur einem Satz gemacht. An der von dir zitierten nicht. Wäre es dir anders vorgekommen, wenn dort Absätze gewesen wären oder war dein Zitat nur ein Beispiel für ein allgemeines Gefühl von deiner Seite?
      Hm ich weiß nicht ob ein Absatz was dran ändern würde. Es ist auch nur diese eine Stelle. An keiner anderen Stelle im Text "stört" mich das so. Ich weiß auch nicht was es ist^^ vielleicht die Wortwahl. Erinnert mich irgendwie an eine Erläuterung einer Abfolge. "Erst tat er das, dann tat er dies, dann tat er jenes und nun das."
      Ich weiß inzwischen was du meinst, hab mir die Stelle nochmal angesehen und werde sie wohl leicht umschreiben. Danke für deinen Eindruck! :)

      Vielleicht noch ein paar Worte zur Entstehung des Textes in Spoiler-Tags, weil solche Informationen manchmal der eigenen Interpretation ein wenig den Antrieb rauben.

      Spoiler anzeigen
      Der Text war ein Experiment, was man an der Form und des eher kryptischen Inhalts wohl erkennen kann. Literaturnobelpreisträgerin Hertha Müller sagte einmal, sie schreibe, wenn sie sich mit dem Rücken zur Wand gedrängt fühle, wenn sie keinen anderen Ausweg sehe - das wäre der Zeitpunkt, an dem sie schreiben müsse. Ein wenig wie bei Hertha Müller war es bei mir. Es war eine Phase der Langeweile. Ich wollte Playstation spielen, aber ich hatte auf kein einziges Spiel Lust. Ich wollte einen Film ansehen, aber keiner der vielen Filme in meinem Regal gefiel mir plötzlich. Schließlich wollte ich schreiben und ich wusste nicht, was ich schreiben sollte. An meinem Konzept weiterarbeiten? Den neuen Roman anfangen? Wäre das überhaupt sinnvoll ohne das vollständige Konzept? Schließlich habe ich mich zu einem Experiment motiviert: Bewusstseinsstrom. Ich habe das Zimmer komplett abgedunkelt, Word gestartet, den Monitor ausgeschaltet, zusätzlich noch die Augen zugemacht und dann habe ich angefangen zu tippen. Da ich das 10-Finger-System ganz gut beherrsche, bin ich einigermaßen in der Lage, fehlerfrei zu schreiben, wenn der Bildschirm aus ist. Der erste Satz, der mir in den Sinn kam:

      "Er lief auf dieser Straße entlang, ohne zu wissen, wohin er wollte."

      Jetzt ist das interessante beim Bewusstseinsstrom, dass alles folgen kann. Die erste Assoziation wird direkt aufgeschrieben, ohne groß darüber nachzudenken. Das ganze läuft rein assoziativ. Man macht sich nicht so viele Gedanken über das große Ganze, sondern eher darüber, was auf den aktuellen Satz, das aktuelle Wort folgt. Man lässt seine Gedanken in Form von Worten und Sätzen einfach aus sich heraus fließen. Das heißt nicht, dass der Text da oben jetzt vollkommen sinnlos ist. Das heißt eher, dass das Resultat ein Produkt von Assoziationen ist, also ungeplant, völlig frei aus den Gedanken entsprungen. Daher hat der Text keine einheitliche Interpretation. Natürlich ist am Ende etwas herausgekommen, das ich für mich persönlich als Aufschlüsselung der Handlung verstehen würde. Allerdings ist meine Interpretation, die Interpretation des Autors, in diesem Fall nichts weiter als... eine Interpretation. Sie hebt sich nicht von den Lesereindrücken ab. Es ist, als ob ich einen fremden Text analysieren würde. Es hat auf jeden Fall Spaß gemacht, so einen Text zu schreiben :)

      Nachdem ich den Text fertig geschrieben hatte, waren übrigens noch keine Absätze drin. Alles war EIN Text. Ich habe aber bemerkt, dass ich ihn noch etwas bearbeiten muss. Im Nachhinein habe ich ihn zwei Mal überarbeitet, Tippfehler korrigiert, Absätze eingebaut und hier und da ein Wort ausgetauscht. Der Großteil des Textes ist aber tatsächlich so zu betrachten, als wäre er direkt aus meiner Hirnmasse auf die Tastatur gequollen! :D

      Edit: Den Titel des Textes habe ich übrigens auch erst später ausgegoren. Er ist natürlich zweideutig zu verstehen. Einerseits für den Zustand der Figur, andererseits für den Entstehungsprozess des Textes ;)


      ...beachtet man das alles, ist es wahrscheinlich kaum verwunderlich, dass Sanity einen solchen Eindruck bei der von ihr zitierten Stelle hatte ^^
      Spoiler anzeigen
      Es war eine Phase der Langeweile. Ich wollte Playstation spielen, aber ich hatte auf kein einziges Spiel Lust. Ich wollte einen Film ansehen, aber keiner der vielen Filme in meinem Regal gefiel mir plötzlich. Schließlich wollte ich schreiben und ich wusste nicht, was ich schreiben sollte.


      So gehts mir so gut wie 24/7^^ wenn ich nicht grade von einem Spiel gefesselt den ganzen Tag zocke.

      Kann ich also sehr gut verstehen.
      Ein großartiges Experiment mit einem beeindruckenden Ergebnis. Die abstrakte Form allein weckt zwar schon relativ schnell mein Interesse, verliert es aber häufig auch ebenso schnell wieder - bei Deinem Text ist letzteres nicht passiert. Vielleicht wäre es sinnvoll, unter solchen "eingeschränkten" / "freien" (?) Umständen häufiger zu schreiben, einfach um zu sehen, wie weit solche Assoziationen führen können... Wäre sicherlich spannend. Jedenfalls liest es sich unglaublich gut und "nachfühlbar", wenn man selbst in "einer großteilig abgedunkelten Höhle" sitzt. ^^ Es ist wirklich sehr traum-haft... was allein schon eine wahre Kunst ist, denn der Versuch, so etwas festzuhalten, endet beim Normalbürger ja doch gerne in wirrem Gemurmal das den Gebrauch illegaler Substanzen suggeriert.
      (Das einzige, was mich etwas irritiert hat, waren die schweißdurchnässten Hände.. Ist das eine übliche Formulierung? Ich lese mittlerweile leider wirklich zu wenig deutsche Texte, aber den Begriff "durchnässt" interpretiere ich ein wenig wie "durchtränkt", was eher bei Stoffen (wie Wolle) zutreffend wäre. Vieleicht liegt das auch wirklich nur an mir, und an solchen Kleinigkeiten möchte ich mich eigentlich auch nicht aufhängen, wenn das Gesamtbild so stimmig ist.)
      No weapons.
      Just words.
      Gut, dass du's sagst, denn auch wenn es eine Nebensache ist, wäre es blöd, wenn ich mir etwas angewöhne, das eine falsche Formulierung und somit eine Stilschwäche sein könnte.
      Ich bin mir selbst auch nicht sicher, daher werd ich's mal nachschlagen. Spontan würde mir nur die Idee kommen, es durch "schweißnasse/feuchte Hände" zu ersetzen, falls "schweißdurchnässt" tatsächlich eine falsche Formulierung ist.


      Edit: Als hättest du's vorher nachgeschlagen, Aya :D

      "durchnässt. Adjektiv - von Flüssigkeit, besonders Wasser, durchtränkt; nass (in Bezug auf Personen, Kleidung o. Ä.)"
      Quelle: Duden online. Markeriung von mir ;)


      Hab's nun geändert auf: "Seine Hände waren vom Schweiß ganz feucht."
      Auch ein blindes Huhn... und so... ;) War ehrlich gesagt nicht ganz sicher, wie ich das nachschlagen sollte, ohne dabei durch falsche Ratschläge erst recht in die Irre zu führen. ^^

      Aber die neue Formulierung gefällt mir wirklich gut.
      No weapons.
      Just words.

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